Harald Wölfel SchrammEin Buch, das unter die Haut geht.

Harald Wölfel-Schramm: „Wanderung zum Eichberg“

Ein Roman in zwei Teilen, der mit sensiblem Blick die Begegnung zweier völlig unterschiedlicher Menschen schildert, die in einer existentiellen Veränderung mündet.

Der erste Teil beginnt mit der Schilderung der Umstände von Kurt Böhlers Geburt, der sich als uneheliches Kind weigert, das Licht einer Welt zu erblicken, die ihm von Anfang an feindlich gesinnt ist. Lisa, Kurts Mutter, leidet sehr unter der gesellschaftlichen Ächtung, flößt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion dem Neugeborenen eine salzhaltige Lösung ein und ergreift die Flucht, ihren Eltern ein behindertes Kind zurücklassend. Die alten Böhlers ziehen Kurt groß, aber dessen Behinderung macht es ihnen nahezu unmöglich, eine innige Zuneigung entstehen zu lassen, so dass man die überforderte Frau Böhler oft stöhnen hört: „Es ist ein Kreuz mit ihm!“ Diese schwierige Situation scheint ein gewisser Dr. Seudens entspannen zu können, der ein ungewöhnliches Interesse am degenerierten Kurt an den Tag legt und Abhilfe verspricht. Diese besteht darin, dass „die Kröte“, wie Kurt von seinem Großvater genannt wird, in eine Klinik und später vielleicht auf den Eichberg gebracht wird, auf dem ihm eine „Sonderbehandlung“ zuteilwerden soll. Um welche Sonderbehandlung es dabei genau geht, bleibt dem Leser noch verborgen.

Dr. Seudens, der sich aus dem fernen München nach Heidelberg begeben hat, kranken Vater und Verlobte zurücklassend, um seine Karriere voranzutreiben, untersucht Kurt auf seine musikalische Begabung hin, seine Experimente scheitern jedoch kläglich: Aus Kurt ist kein musikalisches Talent herauszulocken. Enttäuscht gibt er auf und entscheidet sich, den „Schwachkopf“ auf den Eichberg zu bringen. Von seinen unlauteren Absichten bekommt auch das Klinikpersonal Wind, das versucht „Kurtchen“ vor der bösen Macht des „Münchners“ zu bewahren. Dass dies nicht gelingt, ist kein Zufall, sondern logische Konsequenz der beschriebenen entmenschlichten Welt, in der die Protagonisten leben. Die Klinik (gemeinhin auch als „Irrenanstalt“ bezeichnet) unterliegt einer straffen Struktur und wird von Menschen geführt, die Menschlichkeit und Mitgefühl als „unprofessionell“ abtun und dahingehende Anwandlungen hart abstrafen (So legt Dr. Schrader, der autoritäre Leiter der Klinik, Oberschwester Martha nahe, sie und ihre „Betschwestern“ durch „neues, zuverlässiges“ Personal zu ersetzen: „Dann können Sie woanders Ihren Gefühlen freien Lauf lassen“). Sie ist ein Schlachtfeld schwelender und immer wieder aufbrechender Animositäten, eine entmenschlichte Maschinerie, in der es für Mitmenschlichkeit und „hehre Gefühle“ keinen Platz gibt.

Dr. Seudens, der sich von der geschäftigen Heidelberger Altstadt abgestoßen fühlt, ist die klare Ordnung der Klinik eine Wohltat, er findet in ihr Ruhe und Geborgenheit. Hier arbeitet er an seiner Karriere, für die er viele Opfer gebracht hat, leitet Experimente, forscht unter Aufbringung eines enormen Einsatzes. Quälen ihn zu Beginn noch Zweifel und Gewissensbisse, so verschwinden diese zusehends. Enthemmt stürzt er sich in die Arbeit, stets das Ziel vor Augen, Ruhm und Anerkennung seiner Forschungen zu erlangen, deren letztes Puzzleteil in den auf dem Eichberg vorgenommenen „Sonderbehandlungen“ besteht. Seine Gefühlskälte nimmt zu, je mehr er sich seinem Ziel nähert. Zügel- und rücksichtslos nimmt er sein Vorhaben in Angriff, dessen Dreh- und Angelpunkt der kleine Kurt ist. Auch wenn er sich einer gewissen Zuneigung zu dem unbeholfenen Kind nicht erwehren kann, sieht er in Kurt letztlich ein Werkzeug, das seine Karriere vorantreiben und ihm zu wissenschaftlichem Ruhm verhelfen soll. In seine niederen Motive gestellt, offenbart er beispiellose seelische Kälte.

In „Wanderung zum Eichberg“ zeichnet der Autor ein präzises Porträt verschiedener Figuren. Mit feiner Ironie demaskiert er deren Verlogenheit, die sie lächerlich macht und zugleich die „zweifache Natur des Menschen“ (Empedokles) zutage fördert. So führt der autoritäre Dr. Schrader seine Mitarbeiter mit strenger Hand, leistet aber rückhaltlos devot jedem „staatlich angeordneten Unfug“ Folge; dem zynischen Dr. Mühlhäuser widerstrebt Dr. Seudens Lebenswandel zutiefst, dennoch bewundert er die „Effizienz“ seiner menschenverachtenden Methode und „das enorme Sparpotenzial, das sie eröffnet“; Dr. Seudens hält sich für selbstlos, ist aber ein Gefangener seines Ehrgeizes, ein zwischen Mitgefühl und Menschenverachtung, Unsicherheit und Überheblichkeit Schwankender  (beispielhaft hier der Fahrscheinkauf, der seine Unbeholfenheit in Situationen des täglichen Lebens aufzeigt, aus der er sich durch einen Kniff rettet, der aber wiederum seine gefühlskalte Seite offenbart, wenn er z.B. Kurts Alter mit der Zahl zehn Komma neun angibt) usw.

Der einzig Ehrliche in dieser kalten Welt ist Kurt, der „Schwachkopf“, nutzloses Mitglied der Gesellschaft, dem niemand in seiner Not hilft, weil keiner es vermag, sein Schicksal über das eigene zu stellen. Nicht einmal die eigene Mutter. Auch Oberschwester Martha sieht sich vor eine wichtige Prüfung gestellt, kann letztlich aber dem Bösen nicht wehren, und dieses obsiegt. Das Unvermögen der Figuren, tiefere Gefühle für ihre Nächsten aufzubringen, durchzieht den ganzen Roman.

Zum Schluss des Textes wird klar, dass das Böse zwar einen Sieg, aber keinen endgültigen errungen hat, dass sich im Gegenteil die Gerechtigkeit ihren Weg ans Licht gebahnt hat. Dr. Seudens, der sich als Richter über die Menschen aufschwingt und Schwache gnadenlos quält, der sich in Machtphantasien versteigt und den vermessenen Wunsch hegt, „Gott sein“ zu wollen, muss tatenlos zusehen, wie seine „Zukunftshoffnung“ vom Ast kriecht und „höhnisch im Gebüsch“ verschwindet.

„Wanderung zum Eichberg“ zeugt von einem ausgeprägten Sprachgefühl, der Text ist flüssig zu lesen, präzise und wohlformuliert und wirkt überhaupt nicht manieriert. Abstruse, urkomische Situationen, die die Schwächen und Unzulänglichkeiten der gezeichneten Charaktere aufdecken, diese dem Leser zugleich aber so nahe führen, dass sie einem geradezu sympathisch werden, drücken dem Text ihren Stempel auf. Bsp. hierzu: das konspirative Treffen auf der Damentoilette, einem kompromittierenden Ort, der gerade dem schüchternen Dr. Boch äußerstes Unbehagen bereitet und der daher schleunigst die Flucht ergreift; das „Wunder auf dem Hinterhof“, die Kollegiumssitzung, in der Dr. Boch ausrastet („Ich werde protestieren!“), die „Atlantik“-Episode („Zwischen Ihnen und uns kommt der Atlantik zu liegen, nicht der Pazifik.“) etc.

Als besonderes Gestaltungsmittel seien als Letztes die symbolischen Bilder erwähnt, die von besonderer Poesie und geradezu entwaffnendem Tiefsinn zeugen. Hier ein Beispiel: Wenn Frau Böhlers Blick nach der Abholung ihres Enkels das sich entfernende Fahrzeug überholt, um in einer unendlich fernen Leere zu landen, in die auch der Wagen verschwindet, so wird in diesem Bild nicht nur ihre Gemütslage eingefangen, die Leere, die sich nach Kurts „Entfernung“ einstellt, sondern auch die intuitiv erfasste Gewissheit, dass Kurt von dieser Leere verschluckt wird, dass ihm womöglich in der Fremde nicht das widerfährt, was ihr mit schönen Worten versprochen wurde. Daher der zaghafte Gruß, den die Großmutter dem verschwindenden Fahrzeug nachschickt.

Fazit: Ein glänzend geschriebenes, mutiges Buch zu einem schwierigen Thema, das die Irrwege aufzeigt, „die tatsächlich einmal beschritten wurden und in deren Richtung heute wieder Wegweiser führen“ (Klappentext). Ein Roman, der es allemal wert ist – allein schon aufgrund seiner besonderen Sprachmusikalität und seines ungewöhnlichen Humors – gelesen zu werden! Ein Buch, das unter die Haut geht und zum Nachdenken anregt. Ich würde mich sehr freuen, wenn dieses besondere Büchlein einige Leser mehr finden würde!

Eine letzte Anmerkung noch: Leider haben sich vor allem auf den ersten Seiten des von mir lektorierten Romans einige Fehler eingeschlichen, die mir als Lektorin den Ruf einbringen könnten, ich nähme es mit dem Lektorieren nicht allzu genau, womit ich mich nun wirklich nicht anfreunden kann, weil es schlicht und einfach nicht auf mich zutrifft. Es ist vielleicht sinnvoll, an dieser Stelle den Autor selbst zu zitieren, der in einem Brief an mich zu diesem Sachverhalt erklärt: „Wie Sie bei Durchsicht des Büchleins sicher feststellen werden, enthält dieses noch einige Fehler. Wie die dort reingekommen sind, ist meiner Verlegerin und mir ein Rätsel. Ihre Schuld ist es jedenfalls nachweislich nicht!“ Na also!

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Wanderung zum Eichberg
von Harald Wölfel-Schramm
Verlag Ute Fuchs
Helmstadt-Bargen, 2012

ISBN 978-3-942941-02-0
Buchpreis 16,50 € (Österreich: 17,00 €)